Wie viel Risiko? Wie viel Chance?

Brüche tun weh und machen es uns allen schwer, Prognosen zu erstellen und zu planen. Doch sind Brüche nur ein Risiko?

„40 % der Fortune Global 500-Firmen werden das Jahr 2027 nicht erleben.“

Disruptionen Zukunftsfähigkeit Resilienz

Fit für das neue Normal

Nach der Krise ist vor der Krise: Wie können Unternehmen auf die drastischen Veränderungen unserer Zeit reagieren, um die Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten?

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Felix Schütze

Fotos
Profilwerkstatt

Wie wird das „New Normal“ aussehen, wenn wir das Coronavirus überwunden oder gelernt haben, mit ihm zu leben? Es gibt Experten wie den niederländischen Klimaforscher Prof. Marten Scheffer, die bereits warnen, dass all die Covid-19-bedingten Veränderungen nichts sein werden im Vergleich zu den Folgen eines ungebremsten Klimawandels. Anders als bei der Pandemie könne man bei einem Klimadrama allerdings nicht auf eine Erleichterung in absehbarer Zeit hoffen. 

Der Klimawandel ist keineswegs die einzige große Herausforderung des 21. Jahrhunderts, die eine Transformation von Politik, Wirtschaft und unseres täglichen Lebens erfordert. Viele Industrieländer, aber auch die Volksrepublik China haben zusätzlich mit dem demografischen Wandel zu kämpfen, der Überalterung der Gesellschaft und einem wachsenden Fachkräftemangel. Es wird eine Herkulesaufgabe, den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Dekaden zu erhalten, wenn ein „Weiter so“ nicht mehr im Einklang mit den Menschen, den Sozialsystemen und dem Planeten steht.

Die Gemengelage wird zusätzlich kompliziert durch eine Anzahl aufeinanderfolgender Zäsuren, die in den vergangenen 20 Jahren immer wieder neue Verhältnisse geschaffen haben. Die Pandemie dürfte dabei das einschneidendste Ereignis sein, aber auch der Brexit, die Trump-Ära, die Finanzkrise oder der 11. September 2001 sorgten für schwere Brüche in der uns bekannten Welt. Für die Zukunft ist nicht zu erwarten, dass die Zahl der von Nicholas Taleb beschriebenen Schwarzen Schwäne abnimmt. Je vernetzter die Welt geworden ist, desto angreifbarer werden die einzelnen Systeme. Die Energie-Infrastruktur, das weltweite Datennetz und auch die Lieferketten zählen dazu. Zusätzlich haben sich gleich mehrere Trends als Reaktion auf die Coronakrise deutlich verstärkt: die Digitalisierung und Automatisierung, die Nachhaltigkeit, aber auch das Niedrigzinsumfeld. 

Mit der Pandemie hat der Veränderungs- und Innovationsdruck deutlich zugenommen, und das Tempo ist atemberaubend: Für Aufsehen sorgte 2017 eine Umfrage unter Führungskräften, der zufolge 40 Prozent der Fortune Global 500-Unternehmen das Jahr 2027 nicht erleben werden. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch am amerikanischen S&P 500-Index ablesen. So nimmt die Dauer der Zugehörigkeit zum Index immer weiter ab und dürfte sich bis 2027 halbiert haben. Der hauptsächlich technologiegetriebene Wandel wird auch Folgen für den Arbeitsmarkt haben. „65 Prozent unserer Kinder werden 2035 in Berufen arbeiten, die es heute in dieser Form noch gar nicht gibt“, sagt etwa Marcus K. Reif, HR-Experte bei der Unternehmensberatung Kienbaum.

Angesichts dieser Entwicklungen auf Trends wie Solarenergie, Windkraft, Elektromobilität, künstliche Intelligenz, Logistik oder Infrastruktur zu setzen bedarf allerdings immer der genauen Analyse. In der Vergangenheit haben Branchen, die politisch besonders im Fokus standen und stark mit Subventionen oder Krediten gefördert wurden, mitunter ein zu schnelles Wachstum hingelegt, was zu Enttäuschungen führte. Hinzu kommen weitere Faktoren, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden, wie etwa der Weltmarkt, Preisentwicklungen, neue gesetzliche und fiskalische Vorgaben oder die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften. Markttiming ist ein weiterer Faktor: Was ist zum Beispiel mit Pharmaunternehmen, die derzeit mit hohen Investitionen Impfstoffe entwickeln und zu spät mit ihren Produkten auf den Markt kommen?

Sinnvoll ist auf jeden Fall mehr Risikomanagement. Ein Denken und Kalkulieren mit Szenarien etwa, um die Risiken und Potenziale von Brüchen und disruptiven Technologien zu erkennen. Das Problem: Mit jeder weiteren Disruption werden bisherige Annahmen zur Makulatur. Das Risiko des Scheiterns ist hoch. Wie können Unternehmer mit dieser Unsicherheit umgehen?

Resilienz – ja, bitte! Nur wie?

Wichtig ist, dass Unternehmen von ihrer Kultur und Organisation her Rückschläge besser verarbeiten können. Dafür gibt es einen Begriff, der seit einigen Jahren immer öfter fällt: Resilienz. Dr. Myriam Dunn Cavelty, Leiterin der Forschungsgruppe Neue Risiken am Center for Security Studies der ETH Zürich, nennt den Grund: „Angesichts der Vielfalt, Komplexität und der Unberechenbarkeit aktueller Risiken ist es schier unmöglich, absolute Sicherheit zu gewährleisten. Krisen und Katastrophen können selbst mithilfe der bestmöglichen Risikomanagementmaßnahmen nicht verhindert werden.“ Das Augenmerk der Risikovorsorge gelte daher zunehmend einer möglichst hohen Krisenfestigkeit und nicht mehr nur dem Aspekt, wie solche Ereignisse vermieden werden können, so Cavelty. Was für die Politik und die staatliche Krisenfähigkeit gilt, gilt spätestens seit der Finanzkrise und erst recht nach Corona auch für Unternehmen.

„Es ist kein Zufall, dass auch der Gegenbegriff der ‚Resilienz‘ gerade Konjunktur hat – die ‚Disruption‘. Im Begriff der ‚Resilienz‘ verdichtet sich die Hoffnung auf Beständigkeit gegenüber der Macht der Disruption“, schreibt der Journalist und Sprachwissenschaftler Wolfgang Krischke. Resilienz zeigt sich in einer schnellen Reaktionsfähigkeit und Flexibilität von Unternehmen. Allerdings ist es schwer, diese Eigenschaft als Faktor oder Messgröße zu quantifizieren.

„Im Begriff der ‚Resilienz‘ verdichtet sich die Hoffnung auf Beständigkeit gegenüber der Macht der Disruption.“
WOLFGANG KRISCHKE

Resilienz ist kein stabiles Merkmal, kein bestimmter Punkt, den man erreichen kann, sondern viel eher eine Fähigkeit, die Unternehmen an vielen Stellen kultivieren und weiterentwickeln können. Die Corona-Pandemie erzeugte zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle den veränderten Gegebenheiten anpassten und sich manchmal sogar regelrecht neu erfanden. Tesla, Ford und General Motors stellten zeitweise die Produktion von Motoren auf Atemschutzgeräte um. Andere Unternehmen holten während der Pandemie kurzfristig die Produktion zurück in den Heimatmarkt oder diversifizierten ihre Lieferketten. 

Das Gros der Gewinner der Coronakrise war allerdings wohl weniger wegen ihrer Resilienz erfolgreich, sondern weil ihre angebotenen Waren und Dienstleistungen die krisenbedingte Nachfrage erfüllen konnten. Wie nachhaltig wird der Erfolg von Firmen wie Tesla, Biontech, Delivery Hero oder Airbnb in Zukunft sein? Im besten Fall werden sie im New Normal zeigen können, wie resilient sie sind.

Disruptionen Chancen Risiken

Ein neuer Blick auf Brüche

Ein Bild sagt manchmal mehr als tausend Worte. Weitwinkel zeigt eine Auswahl von Bildern, die die Geschichten des Titelthemas weitererzählen.

Pharmabranche Reputationsgewinn Innovationen

Moderne Weltenretter

Die Corona-Pandemie hat dem Pharmasektor zu einem radikalen Imagewandel verholfen. Standen die Großkonzerne zuvor oft wegen hoher Preise in der Kritik, gelten sie heute als Weltenretter.

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Dr. Markus Manns

Illustration
Julia Praschma

In Rekordzeit haben Pharmariesen und kleine Biotechnologiefirmen Corona-Impfstoffe und Therapien entwickelt. Viele Unternehmen haben im Angesicht der Krise eng zusammengearbeitet und sogar Daten miteinander geteilt. Diese Flexibilität und Geschwindigkeit haben zu einem erheblichen Reputationsgewinn für die Branche geführt. Das könnte sich positiv auf die Vergabe von Fördermitteln oder auf Steuererleichterungen auswirken und eventuell sogar zu einer neuen Preissetzungsmacht bei Generika und weniger Preisdruck bei patentgeschützten Medikamenten führen. Der Pharmasektor wird zudem von einem Quantensprung in der Technologie geprägt. Ein Nutznießer ist die Krebsbekämpfung. So werden die neuen mRNA-Technologien auch zur Entwicklung von Krebsmedikamenten eingesetzt. Ein weiterer Ansatz sind ADCs (Antikörper-Drug-Conjugates). Hier transportieren Antikörper toxische Substanzen direkt zu den Krebszellen, um diese zu zerstören. Die Unternehmen, die zu den technologischen Vorreitern der Branche zählen, werden sich innerhalb des Megatrends Gesundheit gegen die Konkurrenz durchsetzen.  

Dr. Markus Manns

ist Portfoliomanager bei Union Investment, verantwortlich für die Bereiche Biotechnologie, Pharmazie und Gesundheit.


Der technologische Fortschritt im Gesundheitssektor ist in seiner Dimension und Geschwindigkeit vergleichbar mit seinem Gegenstück in der Technologiebranche, der etwa den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Robotern ermöglicht. Doch er findet weniger Beachtung in der breiten Öffentlichkeit – obwohl gerade die positiven Aussichten bei der Volkskrankheit Krebs von breitem Interesse sein sollten. Hier gibt es eine ganze Reihe vielversprechender Entwicklungen: Immuntherapeutika aktivieren das körpereigene Immunsystem zur Krebsbekämpfung, und es besteht die Hoffnung, dass mit diesen und anderen Durchbrüchen Krebs von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit umgewandelt werden kann. Doch die Liste technologischer Innovationen in der Gesundheitsbranche ist noch wesentlich länger. Für die sogenannte Genschere, mit der Gensequenzen im Erbgut ausgetauscht werden können, gab es 2020 den Nobelpreis für Medizin, auch wenn sie bislang hauptsächlich in der Forschung eingesetzt wird.

Disruptionen Kennzahlen Vergleich

Kräftemessen von Alt und Neu

Disruptive Technologien haben das Potenzial, die Wirtschaft und die Märkte umzukrempeln. Platzhirsche geraten branchenübergreifend unter Druck, oft durch Marken, deren Namen vor wenigen Jahren noch gar nicht existierten. Aber nicht immer fällt der Vergleich zulasten einer Seite aus.

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Sonja Stöhr und Johannes Büchl

Grafiken
Nadine Hippe

Mobilität

Unterhaltung

Unterkünfte

Fitness

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31,12

Milliarden US-Dollar

49,59

Milliarden US-Dollar

663,3

Milliarden US-Dollar

83,0

Milliarden US-Dollar

70.757

155.000

499.550

rund 6,8

Millionen

4

39

Tesla

General Motors

39,92

Milliarden US-Dollar

167,72

Milliarden US-Dollar

227,7

Milliarden US-Dollar

337,7

Milliarden US-Dollar

24,9

Milliarden US-Dollar

65,4

Milliarden US-Dollar

9.400

175.000

203,7

Millionen (Q4 2020)

94,9

Millionen

Netflix

Disney (The Walt Disney Company)

17,82

Milliarden US-Dollar

88,05

Milliarden US-Dollar

48,4

Milliarden US-Dollar

106,6

Milliarden US-Dollar

10,6

Milliarden US-Dollar

3,4

Milliarden US-Dollar

121.000

5.597

1,42

Millionen

5,6

Millionen

Marriott

AirBnB

1,51

Milliarden US-Dollar

7,23

Milliarden US-Dollar

7,3

Milliarden US-Dollar

29

Milliarden US-Dollar

404,6

Millionen US-Dollar

2,9

Milliarden US-Dollar

1.616

5.862

13,5

Millionen

1,1

Millionen

Planet Fitness

Peloton

Künstliche Intelligenz Private Equity Genforschung

DeepMind

Die Google-Tochter DeepMind Technologies hat mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz für einen Durchbruch in der Genforschung gesorgt. Private-Equity-Kapital spielte beim Beginn der Erfolgsgeschichte des Unternehmens eine entscheidende Rolle.

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Felix Schütze

Pharmahersteller verdanken der KI von DeepMind „AlphaFold“ einen wichtigen Baustein in der gesamten Wirkstoffforschung. Diese ermöglicht eine beschleunigte Analyse komplexer Proteinstrukturen. In einigen Medien wird das „AlphaFold“-Programm sogar mit der zweiten genetischen Revolution verglichen. Noch vor wenigen Jahren war DeepMind eher als Spieleentwickler bekannt, etwa von AlphaGo, einem Programm, das das Brettspiel Go spielt. Die große Bandbreite von Spieleentwicklung bis zu Strukturbiologie charakterisiert das weitreichende Selbstverständnis von DeepMind. Es ist ein reines KI-Unternehmen, das keinerlei Scheuklappen bei der Suche nach KI-Lösungen zu haben scheint.

Als das britische Start-up 2010 in London gegründet wurde, begann gerade die Phase der Kommerzialisierung der künstlichen Intelligenz. Die DeepMind-Gründer Demis Hassabis, Shane Legg und Mustafa Suleyman konnten mehrere Venture-Kapital-Firmen von ihrem Geschäftsmodell überzeugen. Zu den Finanziers gehörten Horizons Ventures und der Founders Fund. Hinzu kamen einige bekannte Angel-Investoren, die sich finanziell an Start-up-Unternehmen beteiligen und diese bereits in der frühen kritischen Phase mit Know-how und Kontakten unterstützen. Zu den Angel-Investoren von DeepMind zählten der Web-Unternehmer Scott Banister, PayPal-Gründer Peter Thiel sowie der Tesla-CEO und SpaceX-Gründer Elon Musk. Bereits nach drei Jahren wurde DeepMind für einen Kaufpreis von schätzungsweise 400 bis 500 Millionen US-Dollar von Google übernommen. Es war die bis dahin größte Übernahme des kalifornischen Unternehmens in Europa.

Neurofinance Risikowahrnehmung Disruptionen

Neurofinance und die Pandemie

Unser Hirn ist so angelegt, anfangs oft die Bedeutung massiver Disruptionen zu unterschätzen. Das hat die Covid-19-Pandemie gezeigt und damit eine Studie der Neurofinance-Wissenschaftlerin Elise Payzan-LeNestour bestätigt.

Brüche Interviewpartner Reflexion

Brüche bedeuten für mich …

Jedes Schwerpunktthema hat eine persönliche Bedeutung für unterschiedliche Menschen. Weitwinkel bat Interviewpartner und weitere Experten um eine ganz persönliche Einschätzung und Vervollständigung dieses Satzes: Brüche bedeuten für mich …