
Europa Integration Reformen
Eurovision gesucht
Die Europäische Union gilt als das größte Friedensprojekt der Geschichte. Doch ihr droht die Erosion. Was sind die Ursachen, und was könnte dagegen helfen?
Der europäische Motor stottert: Die Flüchtlingskrise, die Aushöhlung des Schengen-Abkommens und der Brexit sind nur drei Brüche, die die Krise der Union markieren. All das wird nur noch von der Coronakrise in den Schatten gestellt, die nicht nur zur finanziellen Belastungsprobe für die 27 Mitgliedstaaten geworden ist. Gelingt es der Europäischen Union, die divergierenden Interessen zusammenzuführen und die Kompetenzen der EU-Institutionen zu bündeln? Oder vergrößern sich die bereits sichtbaren Risse innerhalb der Staatengemeinschaft?
Stagnation und Reformbedarf
Die derzeitige Stagnation des europäischen Integrationsprozesses birgt die Gefahr des Auseinanderdriftens. Doch müssen die Integrationsbefürworter Wege finden, wie die Bürger künftig besser eingebunden werden können. Ein Weg könnte etwa über mehr Bürgerbeteiligung führen. Aber auch über Programme, die den Nutzen der EU besser verdeutlichen als bisher. Nicht umsonst hat die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihrer Agenda das Motto „Neustart für Europa“ gegeben. Das ambitionierte Programm geht aktuell drängende Fragen an wie den Klimawandel („European Green Deal“), die Migration und die Digitalisierung. An diesen Themen, die inzwischen auch zum Teil mit der Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie zusammenhängen, zeigt sich auch, wie sehr eine Lösung dieser Fragen von einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit abhängt.

Gründungsfehler beheben
Entscheidend für den Erfolg wird aber auch sein, auf welche Weise die Europäische Union es schafft, ihre eigenen Gründungsfehler zu beheben. So hat die Eurozone zwar seit nunmehr 20 Jahren eine gemeinsame Währung, aber 19 unterschiedliche Wirtschaftspolitiken. Ohne eine gemeinsame harmonisiertere Steuer- und Wirtschaftspolitik wird aber die Währungsunion nie richtig funktionieren können. Immer deutlicher wird auch, dass eine rein wirtschaftliche Union ohne eine politische Union langfristig nicht funktionieren wird. Doch wäre eine mit entsprechenden Rechten ausgestattete supranationale Institution überhaupt demokratisch legitimierbar und damit politisch durchsetzbar? Wie ließen sich etwa notwendige fiskalische Maßnahmen grenzübergreifend durchsetzen, ohne dass die Mitgliedstaaten ihre Souveränität aufgeben?
Ifo-Präsident Clemens Fuest weist ebenfalls darauf hin, dass die Währungsunion unbedingt weitere Reformen braucht, „damit sich ihre Mitgliedstaaten einschließlich Deutschland wirtschaftlich optimal entwickeln und künftige Krisen gut überstehen können.“ Initiativen wie die Vollendung der Bankenunion und der Kapitalmarktunion führen zwar in die richtige Richtung. Doch insgesamt ist gerade in Deutschland die Skepsis groß, dass damit quasi durch die Hintertür der Weg in die Transferunion und zur Vergemeinschaftung der Schulden geöffnet wird. Ein Stichwort, das auch in Bezug auf die von den südlichen EU-Mitgliedern dringend erbetenen Corona-Bonds die Runde machte. Solange diese Vorbehalte nicht durch eine gemeinsame solidarische Haltung der Mitgliedstaaten überwunden werden, dürften Fortschritte in Richtung mehr Integration schwierig werden.
Von einer einvernehmlichen Lösung der Überwindung der negativen Folgen der Pandemie, ob mit einem europäischen Wiederaufbaufonds, einer konditionsbefreiten ESM-Nothilfe oder einem anderen Unterstützungsmechanismus für die am schwersten betroffenen Mitgliedstaaten, hängt nicht zuletzt ab, ob die Union nach Covid-19 wieder wirtschaftlich auf die Füße kommt.
Kann die EU ihre eigenen Gründungsfehler beheben?

Lähmendes Einstimmigkeitsprinzip
Ein weiteres grundsätzliches Problem, das die EU bei vielen wichtigen Entscheidungen lähmt, ist das Einstimmigkeitsprinzip. Dieses Prinzip gilt bei sensiblen Entscheidungen aller EU-Staats- und Regierungschefs im Europarat wie etwa im Falle von Steuer- und Finanzfragen genauso wie bei der Außen- und Sicherheitspolitik und bei Bürgerrechten. Bezeichnenderweise divergieren in diesen Feldern die Vorstellungen der Ratsmitglieder am meisten, wie es europäisch weitergehen soll. Dies zeigte sich besonders deutlich an der Migrationspolitik, bei der sich die Europäische Union seit fünf Jahren selbst blockiert.
Die Problematik ist bereits unter der alten EU-Kommission diskutiert worden, wo man für eine schrittweise Abkehr des Prinzips der Einstimmigkeit etwa in Steuer- und Sozialfragen plädierte. Denkbar wäre eine einfache, eine qualifizierte oder doppelte Mehrheit, wie sie bereits in anderen Bereichen der EU gilt, etwa bei Entscheidungen zur Handels- oder Klimapolitik.
Mehr oder weniger Europa?
Die Zukunft der EU wird nicht zuletzt von der Zusammenarbeit zwischen den Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich abhängen, deren Gewicht mit dem Brexit noch einmal zugenommen hat. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte dafür bereits 2017 die Initiative ergriffen. In einer Grundsatzrede an der Pariser Universität Sorbonne regte er einen neuen Élysée-Vertrag an, um wie einst de Gaulle und Adenauer als deutsch-französischer Motor die europäische Integration voranzubringen. Auf Macrons kühne Vorschläge und das Werben für einen Eurozonen-Haushalt, eine gemeinsame Armee und einheitlichere Steuern reagierte die Bundesregierung zurückhaltend. Zu unterschiedlich ist immer noch die außen- und sicherheitspolitische Agenda der beiden Staaten.
Wie geht es weiter?
Zahlreiche Modelle für die Zukunft Europas sind denkbar. Die einen fordern „mehr Europa“, das heißt zusätzliche Macht für die Brüsseler Institutionen, andere wollen im Kern den Status quo erhalten, wieder andere plädieren für ein Europa, in dem die nationalen Regierungen mehr Einfluss haben. In diesem Zusammenhang hat die EU-Kommission unter dem damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker bereits 2017 das sogenannte Weißbuch zur Zukunft Europas erarbeitet. Darin werden fünf mögliche Szenarien vorgestellt, wie sich Europa weiterentwickeln könnte. Welches davon eintritt, ist auch nach dem Brexit noch offen. Dieser könnte ähnlich wie die Corona-Pandemie und die erneute Flüchtlingskrise jedoch zu einem Weckruf für die anderen EU-Staaten werden, ihre Zusammenarbeit trotz aller Hindernisse doch noch zu vertiefen.
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