
Freiheit Wachstum Werte
Auslaufmodell?
70 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und 30 Jahre nach dem Mauerfall steht ein selbstverständlich geglaubtes Gut immer öfter infrage: die Freiheit. Ist sie ein Auslaufmodell? Oder erweist sie sich doch als widerstandsfähiger, als manche denken?
Nur vier Prozent der Weltbevölkerung – rund 282 Millionen Menschen – genießen uneingeschränkt die Freiheit, sich zum Protest zu versammeln und ihre Meinung zu äußern. So steht es im diesjährigen „Atlas der Zivilgesellschaft“. Selbst in einer der freiheitlich-demokratischen Kernregionen, nämlich in Europa, werden Freiheitsrechte immer öfter eingeschränkt.
In insgesamt 13 der 28 EU-Staaten wurde die Freiheit auf ganz unterschiedliche Weise gebeugt und Maßnahmen gegen Journalisten, Menschenrechtler und politische Aktivisten ergriffen. Bemerkenswerterweise werden Einschränkungen der Freiheitsrechte selbst von demokratisch legitimierten Regierungen beschlossen, die keineswegs nur populistischen Lagern entstammen.
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Weniger Freiheit, mehr Wachstum?
Lange galt Freiheit als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand. Andererseits verzeichneten in jüngerer Zeit gerade Staaten mit eingeschränkten Freiheitsrechten, wie die Volksrepublik China, Singapur oder Saudi-Arabien, hohe Wachstumsraten. Dies führte zu einer Diskussion, ob Autokratien möglicherweise ökonomisch effizienter wären als freiheitliche Demokratien.
Zunehmend wird auch der Nutzen eines internationalen Freihandels infrage gestellt. Unter dem Slogan „America First“ hat US-Präsident Donald Trump ein Gegenmodell zur vom Freihandel geprägten Globalisierung etabliert. In der Folge haben die gewachsenen Unstimmigkeiten zwischen den USA und China und zahlreichen anderen Staaten eine unheilvolle Dynamik in Gang gesetzt, die das Potenzial hat, sich jederzeit zu einem Handels- oder gar Währungskrieg auszuwachsen.
Können Staaten von einer protektionistischen Handelspolitik überhaupt profitieren? Mit dieser Frage beschäftigte sich bereits 1974 die US-Ökonomin Anne Osborn Krueger. Krueger formulierte dabei den „Rent-Seeking“-Ansatz, also ein Drängen inländischer Akteure auf nicht marktgerechte Renditen, die letztlich auf unterschiedliche Art in Protektionismus münden. Das kann etwa die Errichtung von Zollschranken zum Schutz inländischer Produzenten sein, aber auch Maßnahmen wie der „Kohlepfennig“ in Deutschland. In der Folge werden Wettbewerbsfunktionen außer Kraft gesetzt. Die fehlende internationale Konkurrenz führt zu einem verminderten Anreiz, die eigene Produktion veränderten Marktbedingungen anzupassen und notwendige Innovationen durchzuführen. Letztlich birgt eine solche Politik also das Risiko, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu schädigen.
Auch die Freiheit selbst wird durch einen protektionistischen Kurs gefährdet. Diese These vertritt der britische Wirtschaftshistoriker Harold James. Der in Princeton lehrende Professor hat Parallelen von Englands protektionistischer Handelspolitik der 1930er Jahre zu den aktuellen geopolitischen Ereignissen untersucht und kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: „Die Lehren aus der Großen Depression liegen klar auf der Hand: Handelskriege, die eigentlich die nationale Sicherheit stärken sollen, untergraben diese in Wahrheit. Das gilt besonders im Falle von Verteidigungsbündnissen, weil Handelshemmnisse Verbündete zwingen, engere Verbindungen mit genau der revisionistischen Macht zu knüpfen, die eigentlich eingedämmt werden soll.“ Genau dieses Szenario präsentiere sich erneut, so James in einem Essay für Finanz & Wirtschaft: „Trumps protektionistische Rhetorik ist eine Reaktion auf den dramatischen Aufstieg Chinas. Aber durch das Anzetteln eines Zollkriegs, der auch die Europäische Union und Kanada betrifft, lässt Trump China als attraktiveren Partner erscheinen als die USA selbst.“

Jahrgang 1956, lehrt an der Universität Princeton. Den Protektionismus behandelte er bereits 2009 in The Creation and Destruction of Value: The Globalization Cycle. James ist Gastredner der 15. Risikomanagement-Konferenz von Union Investment.
Die Freiheit wird auf ganz unterschiedliche Weise in 13 der 28 EU-Staaten gebeugt.

Totale Freiheit, maximale Manipulation?
Protektionistische Eingriffe zugunsten nationaler Handelsinteressen geben Grund zur Skepsis. Andererseits hat sich insbesondere in jüngerer Zeit gezeigt, dass eine totale Freiheit der Märkte eben auch negative Folgen haben kann. Dabei wird die Freiheit oft zum eigenen Vorteil instrumentalisiert. Unter diesem Verdacht stehen etwa die US-Technologieriesen Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook. Wegen ihrer enormen Marktmacht befinden sie sich bereits auf beiden Seiten des Atlantiks unter besonderer Beobachtung der Kartellbehörden. Ihre herausragende Position gefährdet den Wettbewerb.
Aber nicht nur das: Die digitalen Mittel zur Datensammlung bieten den Technologieriesen auch die Möglichkeit von Manipulation und Missbrauch sensibler Informationen. Allerdings machen davon auch unterschiedlichste Interessengruppen und Staaten Gebrauch. In der Folge stellt das Internet selbst die Freiheits- und Grundrechte zunehmend infrage.
Das World Wide Web stärker zu regulieren würde allerdings ebenfalls Einschränkungen von Freiheitsrechten bedeuten. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich auch beim Terrorismus. In Zeiten einer allgemeinen Verunsicherung sind es oft die Bürger selbst, die ein Weniger an Freiheit akzeptieren, wenn sie dafür etwa ein größeres Sicherheitsgefühl bekommen. Insofern befindet sich die Freiheit gewissermaßen in der Klemme zwischen ideologischen Straftätern und einem Überwachungsstaat.

Große Freiheit, große Furcht?
Die bürgerliche Flucht aus der Freiheit und die Sehnsucht nach mehr autoritärer Führung beschrieb 1941 der im Exil lebende Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“. Darin wird das Dilemma des Menschen geschildert, dessen Freiheiten auf der einen Seite wachsen. Auf der anderen Seite fürchtet er aber den leeren Raum, in dem ihm keiner mehr sagt, was das Richtige ist. Dieses Phänomen ist so alt wie die Menschheit und kennt keine regionale Begrenzung. Es ist ein grundsätzliches Dilemma, vor dem Menschen stehen, die befreit werden, sei es in den Wendejahren 1989 bis 1991 oder etwa im Arabischen Frühling. Die Schwierigkeit, mit der Befreiung umzugehen, oder die „Freiheit, frei zu sein“ beschäftigte bereits 1967 die Philosophin Hannah Arendt. Eine von Arendts Erkenntnissen lautete sinngemäß, frei zu sein bedeutet auch frei von Not zu sein. Das ist auch die Voraussetzung für politische Freiheit.
Chancen für die Freiheit?
In eine ähnliche Richtung geht der Begriff der qualitativen Freiheit, den der Tübinger Philosoph Claus Dierksmeier vor wenigen Jahren in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat. Er unterscheidet darin die rein quantitative Freiheit, also die Anhäufung individueller Wahlmöglichkeiten, und die qualitative Freiheit, die mit der wechselseitigen Verbesserung von Lebenschancen einhergeht. Denn Freiheit bedeutet nicht nur die Vergrößerung persönlicher Chancen, sondern auch die Verantwortung gegenüber anderen. So etwa die Verantwortung, dass künftige Generationen nicht in eine ökologisch zerstörte Welt geboren werden, in der ihre Freiheiten automatisch eingeschränkt wären.
Voraussetzung dafür ist ein qualitatives Abwägen von Freiheiten, damit möglichst viele davon einen Nutzen haben. Das könnte konkret bedeuten, dass hohe soziale und ökologische Standards die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zwar einschränken können, was andererseits aber erst die Freiheit vieler ermöglicht. Laut Dierksmeier geht es nicht um „je mehr, desto besser“, sondern um „je besser, desto mehr“. Freiheit ohne einen gewissen Wohlstand und soziale Mindeststandards wird immer unter Druck geraten. Hierin wurde auch schon vielfach eine der Hauptursachen für das Aufstreben populistischer Bewegungen gesehen. Mehr qualitative Freiheit wäre zumindest ein Ansatz, um sie gegenüber den vielen derzeitigen Risiken resilienter zu machen.
Wenn Sie tiefer in die Materie eintauchen wollen, können Sie unter folgenden Links weiterlesen: